Collage Titelbild: © Karolina Wojciechowska
Was tun, wenn das eigene Kind von einer Essstörung betroffen ist? Um Schlimmeres zu verhindern, braucht es vor allem eines: Kommunikation.Wie Eltern damit umgehen können und wie man ein positives Körperbild vermittelt, erzählt Jasmin Bühler Navarro, Sozialpädagogin und Expertin für körperpositive Erziehung, im Interview.
Jasmin, du begleitest in deiner Arbeit auch Eltern,deren Kinder an einer Essstörung leiden. Was fällt dir da auf?
Oft sind es Mütter mit ihren Töchtern, die den Weg zu mir in die Beratung finden. Die Kinder haben oft bereits ein negatives Körperbild, finden sich häufig zu dick und fühlen sich unwohl mit den körperlichen Veränderungen während der Pubertät. Häufig sehe ich eine grosse Unsicherheit bei den Eltern. Gerade wenn ein Kind nicht dem entspricht, was als normschön gilt, wenn es zum Beispiel kräftiger ist als andere. Dann stellen sich auch manche Eltern die Frage: Sollte ich das Essen kontrollieren? Manchmal hat sogar die Kinderärztin oder der Kinderarzt bereits eine Diät vorgeschlagen.
Es sind ja nicht nur Mädchen betroffen, sondern auch Jungen. Welche Unterschiede kannst du zwischen Jungen und Mädchen feststellen?
Bei den Mädchen geht es vor allem darum, dünn zu sein. Jungs wollen «pumpen», also so hart trainieren, dass die Muskeln definiert sind. An den Schulen, an denen ich arbeite, habe ich oft das Gefühl, Essstörungen werden als reines «Mädchenthema» wahrgenommen. Ich glaube aber, das liegt eher daran, dass wir Erwachsenen Jungen nicht ausreichend die Möglichkeit geben, darüber zu sprechen, wie sie sich fühlen – auch in Bezug auf ihren Körper. Somit liegt es nahe, dass sie ihre Gefühle verbergen oder nicht über die richtigen Instrumente verfügen, um darüber zu sprechen.
Was kann ich als Elternteil tun, um meinem Kind ein positives Körperbild zu vermitteln?
Das ist das Schöne: Man kann sehr viel tun. Ich rate immer dazu, ein körperpositives Zuhause zu schaffen. Den Kindern sollte es erlaubt sein, den Körper einfach in Ruhe wachsen zu lassen, Raum einzunehmen, ohne dass wir Erwachsenen unsere Vorurteile auf die Kinder übertragen. Ich kann zum Beispiel mit Kinderbüchern den Zugang zu verschiedenen Körperbildern ermöglichen. Oder Körper immer neutral beschreiben, ohne sie zu bewerten, den eigenen wie auch die Körper anderer. Wichtig ist, anzuerkennen, dass jeder Mensch Experte oder Expertin für den eigenen Körper ist. So lernen wir, Grenzen zu setzen und ein positives Körpergefühl zu entwickeln.

Jasmin Bühler Navarro (38) ist Sozialpädagoginund lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Bern. Sie engagiert sich dafür, Kindern ein Aufwachsen mit positiven Körperbildern zu ermöglichen,und bietet Coachings für Eltern sowie Workshops in Schulen an.
Manchmal kann man als Eltern noch so viel tun, um eine körperpositive Umgebung zu schaffen, und trotzdem entwickeln Mädchen ein negatives Körperbild.
Wir können die Gedanken, Gefühle und Wünsche bezüglich der Körperwelt unserer Kinder nicht kontrollieren. Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Aber wir können unsere Kinder dabei begleiten, ein gesundes Körperbild und Selbstwertgefühl zu entwickeln.
Wenn meine Tochter nun eine Essstörung entwickelt hat, was kann ich als Bezugsperson dann tun, um ihr zu helfen?
Hinsehen. Früh handeln. Eine Mutter hat mir kürzlich geschrieben, dass sie von einem Kinderarzt den Rat erhalten habe, es einfach laufen zu lassen. Das verwachse sich wieder. Leider wird es oft heruntergespielt. Ohne Hilfe von aussen geht es aber nicht. Ich rate immer dazu, rasch mit dem Kind in den Austausch zu gehen, seine Gefühle ernstzunehmen, da zu sein. Im Nachhinein sagen Betroffene oft, sie hätten sich gewünscht, jemand hätte sie angesprochen, ihnen die Hand gereicht. Wichtig ist dann, nach Fachstellen zu schauen und das Kind in Esssituationen zu begleiten. Das kann lebenswichtig sein.
Du hattest als junge Frauselbst eine Essstörung. Wie blickst du heute darauf zurück?
Das war eine schwierige Zeit. Es fing im Teenageralter an. Je älter ich wurde, umso öfter habe ich Kommentare von aussen bekommen. Ich wurde mit meiner Schwester verglichen, mein Körper wurde kommentiert und mir wurde – wie vielen Kindern und Jugendlichen – gespiegelt, dass Schönheit von Bedeutung ist. Ich habe angefangen, mich zu bewerten, perfekt sein zu wollen. Bei meiner Mutter habe ich mir dann Diäten abgeschaut und dabei immer gedacht, ich könnte jederzeit wieder aufhören. Das war nicht der Fall. Ich habe schliesslich jahrelang mit einer Bulimie (einer Ess- und Brechsucht, Anm. d. Red.) gekämpft. Heute würde ich sagen, dass keine Diät harmlos ist.
Was sind die Gründe für eine Essstörung?
Bei mir war es so, dass ich lange Halt und Sicherheit im Aussen gesucht habe. Dem liegt eigentlich ein sehr niedriger Selbstwert zugrunde. Solange ich meinen Körper kontrollierte, hatte ich das Gefühl, ich behalte auch die Kontrolle über mein Leben und finde so eine gewisse Stabilität. Insgesamt spielen immer mehrere Faktoren eine Rolle. Was viele zum Beispiel nicht wissen: Es gibt auch eine Veranlagung.
Auch Social Media spielt eine zentrale Rolle. Kinder und Jugendliche sind dort unrealistischen Körperbildern und Schönheitsidealen ausgesetzt. Wie nimmst du das in deiner Arbeit wahr?
Das ist extrem problematisch. Gerade in meiner Arbeit an Schulen beobachte ich immer wieder, dass Kinder, vor allem Mädchen, sich erst mal darum sorgen, wie die Welt sie wahrnimmt. Ist meine Haut zu fleckig, mein Haar zu dünn? Sehe ich in der Hose zu dick aus? Anstatt dass sie die Welt mit offenen Augen betrachten und ihr eigenes Potenzial entfalten.
Wer oder was inspiriert dich?
Mein Sohn. Zu sehen, mit welcher absoluten Freiheit er seinen Ball in die Luft wirft und keine Sekunde daran denkt, den Bauch einzuziehen oder was er noch essen darf und was nicht. Das ist schön. Und da darf ich mir immer wieder eine Scheibe von abschneiden.
Erfahre hier mehr über die Arbeit von Jasmin Bühler Navarro: https://zurueck-zur-intuition.com
BUCHEMPFEHLUNG:

Spieglein, Spieglein, wie fühl ich mich?
Um Kinder dabei zu begleiten, ein positives Bild im Umgang mit dem eigenen Körper zu entwickeln, hat Jasmin Bühler Navarro auch ein Kinderbuch geschrieben: «Spieglein, Spieglein, wie fühl ich mich?» Es ermöglicht nicht nur Kindern, sondern auch Eltern und Pädagog*innen einen Zugang zu den Themen Körperakzeptanz, psychische Gesundheit, Identität und Diversität.