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Toxische Weiblichkeit: Wie stereotype Rollenbilder uns schaden

Patriarchale, kapitalistische Gesellschaftsstrukturen bringen nicht nur toxische Männlichkeit hervor, sondern auch toxische Weiblichkeit. Diese schadet vor allem den Mädchen und Frauen selbst. Wie wir ihr als Eltern entgegenwirken können, erklärt die Psychotherapeutin und Bestseller-Autorin Felizitas Ambauen im Interview.

Felizitas, trägt jede Frau Eigenschaften toxischer Weiblichkeit in sich?

Leider ja. Bis vor wenigen Jahren habe ich noch gedacht – oder gehofft –, das sei nicht so. Je mehr ich mich aber auch mit der soziologischen Ebene befasst habe, desto mehr wurde mir bewusst, dass wir als Individuen der gesellschaftlichen Prägung nicht entkommen können. Im Kapitalismus und Patriarchat ist es unabdingbar, dass Frauen die Rollen erfüllen, die ihnen heute noch zugeschrieben werden: die unbezahlte Care-Arbeit, das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse zugunsten anderer und das Zurückhalten von zu grossen Ambitionen. Unsere individuelle Prägung innerhalb der Familie kann dem zwar positiv entgegenwirken, aber den Eltern sind aufgrund dieser gesellschaftlichen Strukturen, in denen wir leben, Grenzen gesetzt.

Felizitas Ambauen und Sabine Meyer sprechen in Folge 26 ihres Podcasts «Beziehungskosmos» ausführlich über das Phänomen «Toxische Weiblichkeit».

Ist toxische Weiblichkeit etwas, das vor allem Mütter ihren Töchtern  weitergeben?

Am meisten reproduziert sie unser gesellschaftliches System. Aber natürlich geben auch die Hauptbezugspersonen – meist Vater und Mutter – diese Muster weiter. Vor allem, wenn sie sich ihnen nicht bewusst sind.

Wie können Eltern dem entgegenwirken?

Die gesellschaftlichen Strukturen können wir leider nicht so leicht ändern. Hier ist vor allem wichtig, dass wir erkennen, wo sie wirken. Das ist der erste Schritt für die Veränderung. Auf der familiären Eben können Eltern dann sehr wohl gute Impulse geben, aber dafür ist zuerst Selbsterkenntnis nötig. Wenn man bei sich selbst nicht realisiert, wo toxische Muster wirken, können wir sie auch bei unseren Kindern nicht unterbrechen. Und oft wirkt das am toxischsten, was wir unbewusst weitergeben. Wenn also die Mutter beispielsweise ihren Kindern vorlebt, dass sie sich selbst nicht wichtig nimmt, ist das eine problematische Botschaft. Oder auch wenn sie den eigenen Töchtern sagt, sie sollen nicht so laut sein, die Söhne hingegen in der gleichen Situation für ihre Durchsetzungskraft lobt. («Mutter» darf hier übrigens gerne durch «Vater» ersetzt werden.) 

Was sind Folgen toxischer Weiblichkeit?

Mädchen lernen, im Zweifel still zu sein, ihre Wut zu bändigen und die eigenen Bedürfnisse hintanzustellen. Die Mädchen tendieren ausserdem dazu, sich klein zu machen, sich weniger zuzutrauen und sich über Bindung und Fürsorge zu definieren. So, wie es halt immer noch als typisch weiblich erwünscht vermittelt wird. An Bindung und Fürsorge ist natürlich nichts falsch. Es ist wichtig, das zu betonen. Aber es ist nichts, was als typisch weiblich gelten sollte, sondern als menschlich. Alle Menschen sollen Bindung und Fürsorge geben können.

Um toxischer Weiblichkeit entgegenzuwirken, muss aber auch die toxische Männlichkeit angegangen werden. Solange es als unmännlich und schwach gilt, wenn man sich kümmert, seine Karriere zugunsten der Familie zurückstellt und weiche Gefühle zeigt, bleiben wir in der Schieflage.

In Ihrer Podcast-Episode über toxische Weiblichkeit zitieren Sie aus dem Buch «Ungezähmt» die Autorin Glennon Doyle: «Als Kind folgte ich meiner Intuition und meine Pläne entsprangen allein meiner Vorstellungskraft. Ich war wild, bis die Scham mich zähmte.» Wieso ist toxische Weiblichkeit so mächtig?

Weil sie eben universell wirkt. Weil es etwas ist, dem man individuell nicht entkommt. Irgendwann wird man eingefangen und gezähmt. Wilde, ungestüme Frauen sind nicht erwünscht. Leider immer noch nicht. Scham ist ein extrem starkes und wirkungsvolles Gefühl, mit dem man Menschen klein halten kann. Es ist eng mit Schuld verknüpft, mit der Verletzung von sozialen Normen. Aber diese «verletzten» Normen sind sehr willkürlich. Und ein lautes Mädchen, das zum Beispiel einen Jungen anschreit, wird leider auch heute noch mit mehr Scham und Schuld beladen, als wenn dieses Mädchen ein Junge wäre.

Buch Beziehungskosmos, Untertitel: Das Buch zum Podcast. Felizitas Ambauen, Sabine Meyer, «Beziehungskosmos: Eine Anleitung zur Selbsterkenntnis». 283 Seiten, erschienen im Juni 2023 im Arisverlag.

In Texten zum Thema geht es häufig darum, wie toxische Weiblichkeit sich vor allem gegen die Frauen selbst richtet. Sind Frauen denn nur Opfer oder werden sie durch toxische Weiblichkeit auch zu Täterinnen?

Das muss man individuell anschauen. Es kann beides sein. Es gibt auch den Begriff der «Täter*innen-Opfer»: wenn man zunächst Opfer war – also Machtmissbrauch ausgeliefert –  und dann selbst zur Täterin wird, weil man so mehr Macht hat. Mir ist wichtig zu sagen, dass wir hier von einem Spektrum reden und nicht von Kategorien. Man ist nicht entweder von toxischer Weiblichkeit betroffen oder nicht. Wir sind alle davon betroffen und einige ein wenig mehr als andere. Das hat viele Gründe. Das Ziel muss auch nicht sein, dass wir das alles loswerden, das ist ein Kampf gegen Windmühlen.

Wenn wir esnicht ganz loswerden können, müssen wir also lernen, damit zu leben?

Es ist sicher wichtig zu akzeptieren, dass wir in einer Welt leben, die ungesunde Geschlechterrollen hat und weitergibt, und dass wir das nicht in den nächsten zehn Jahren ändern werden. Das heisst aber nicht, dass man es resignativ annehmen soll. Veränderung kann passieren, dazu braucht es den steten Tropfen, auch in der Politik, wo solche Veränderungen angestossen werden können. Denn dort liegt gesellschaftlich der Hebel. 

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