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Keine Chancengerechtigkeit in der Bildung

In der Schweiz hängt der Schulerfolg eines Kindes stark vom sozioökonomischen Hintergrund seiner Eltern ab. Für mehr Bildungsgerechtigkeit müssen wir die Aufteilung in Leistungsniveaus am Ende der 6. Klasse abschaffen.

Kurz vor dem Start ins neue Schuljahr ist es höchste Zeit, einen bei vielen Eltern tief verankerten Glaubenssatz zu demontieren. Nämlich den, dass, wer sich anstrengt, fleissig lernt und gute Noten schreibt, es schulisch weit bringt. Klingt ja eigentlich nur logisch und gerecht. Nur, gerecht ist das Schweizer Bildungssystem leider nicht. Denn ein zentraler Faktor, der die Schulleistung von Kindern und Jugendlichen bestimmt, ist ihr sozioökonomischer Hintergrund. Die Folge: Pro Jahr bleibt das Talent von rund 14 000 Jugendlichen ungenutzt.

Zudem machen Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Elternhäusern dadurch negative Erfahrungen, die emotional und psychisch belastend sind. Wie unterschiedlich Primarschüler:innen den Selektionsdruck erleben und damit umgehen, zeigt der sehenswerte Dokumentarfilm «Mein Leben und der Notenschnitt» auf eindrückliche Art und Weise.

Klare Belege für Ungerechtigkeit

Dass das Schweizer Bildungssystem nicht gerecht ist, zu diesem Schluss kommen zwei gewichtige Stimmen der Schweizer Bildungslandschaft. Zum einen der Verband der Schulleiterinnen und Schulleiter (VSLCH) und zum anderen die Allianz Chance+, die sich für mehr Chancengleichheit in der Bildung einsetzt. Letztere verweist auf die Erkenntnisse aus dem neusten, 407 Seiten langen Schweizer Bildungsbericht (ein Referenzwerk, das Auskunft gibt über den Stand der bildungspolitischen Ziele von Bund und Kantonen und das deren Weiterentwicklung steuern soll). Folgende Erkenntnisse seien nicht von der Hand zu weisen, schreibt die Allianz Chance+:

  • Rund 30 % der Primarschüler:innen haben ein grösseres Risiko, schlechte schulische Leistungen zu erbringen. als ihre Mitschüler:innen, weil mindestens einer der folgenden «Risikofaktoren» auf sie zutrifft: Sie sind fremdsprachig, haben einen Migrationshintergrund, wachsen in prekären ökonomischen Verhältnissen auf und/oder ihre Eltern haben eine geringe Bildung.
  • Selbst von jenen «Risiko-Primarschüler:innen», die sehr gute Noten schreiben und zu den besten Kindern in der Klasse gehören, schafft weniger als die Hälfte den Wechsel an die Sekundarschule in ein Niveau mit höheren Ansprüchen.
  • Diese Selektion am Ende der Primarschule stellt die Weichen für lange Zeit. Aus diesem Grund haben 6. Klässler:innen aus sozial benachteiligten Familien eine rund drei Mal geringere Chance, später ein Gymnasium zu besuchen, als Kinder aus privilegierten Familien – selbst wenn sie die gleichen schulischen Leistungen erzielen.
  • Der sozioökonomische Hintergrund eines Kindes bestimmt seine Schulleistung und letztendlich seine berufliche Laufbahn. Jugendliche aus bildungsfernen und ärmeren Familien wählen signifikant seltener eine anspruchsvolle Berufslehre, eine Berufsmaturität oder eine gymnasiale Ausbildung.
  • Kinder von Eltern, die studiert haben, gehen überproportional häufig selbst auf eine universitäre Hochschule.
  • Studierende mit Migrationshintergrund sind an unseren Hochschulen unterrepräsentiert.

Die Allianz Chance+ kritisiert, dass in der Schweiz eine systematische Ungleichbehandlung bestehe, die der Bildungsbericht viel zu wenig deutlich offenlege. Zudem nenne er keine Gründe für diese Ungerechtigkeit und spreche auch nicht die Rolle der Lehrpersonen an, die einen entscheidenden Einfluss darauf haben, in welche Leistungsniveaus Primarschulkinder in der folgenden Sekundarschule kommen.

Vorurteile von Lehrpersonen beeinflussen die Selektion

Konkret geht es also darum, dass Lehrpersonen (unbewusste) Vorurteile gegenüber weniger privilegierten Schüler:innen haben und sie deshalb in schwächere Klassen einteilen, selbst wenn die Kinder und Jugendlichen aufgrund ihrer schulischen Leistungen eigentlich in bessere Klassen gehörten. (Diesem Thema widmet sich das Online-Medium baba news immer wieder. Ich möchte euch das Interview mit der Rassismus-Expertin Dr. Stefanie Claudine Boulila und jenes mit dem Lehrer und Dozenten Dieter Rüttimann wärmstens empfehlen.)

Schulleiter:innen wollen Selektion verschieben

Doch was können wir tun, damit wir in der Schweiz gerechtere Bildungschancen haben, (abgesehen davon, dass wir alle über unsere Vorurteile reflektieren sollten)? Der Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH) nannte kürzlich drei konkrete Massnahmen:

  1. Die Selektion Ende der 6. Klasse soll ans Ende der Volksschule, das heisst ins 9. Schuljahr, verschoben werden.
  2. Die Frühförderung von fremdsprachigen Schüler:innen und ihren Familien soll gefördert (und eingefordert) werden.
  3. Die Durchlässigkeit zwischen Leistungszügen soll verbessert werden. Mit anderen Worten: Es soll einfacher werden, zwischen den verschiedenen Schulniveaus zu wechseln, wenn sich die Schulleistung eines Jugendlichen steigert. 

Keine Einteilung in Leistungsniveaus am Ende der Primarschule? Was Bildungswissenschaftler:innen, Expert:innen und Berufsverbände fordern, ist in der Politik noch lange nicht angekommen – weder auf kantonaler noch auf Bundesebene. Dabei drängt die Zeit: Die Arbeitswelt verändert sich rasant und «Nichtroutine-Tätigkeiten» sowie lebenslanges Lernen werden immer wichtiger. Eine möglichst gute Allgemeinbildung ist unter diesen Umständen schlicht überlebenswichtig und ergo auch eine nächste Reform im Bildungswesen. Immerhin hat die Schweiz in der Vergangenheit gezeigt, dass sie dazu fähig ist. Etwa bei der Einführung der Berufsmaturität. Ein ähnlich überzeugtes und mutiges Vorgehen ist heute mehr denn je nötig.

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