Ob im Mathematikunterricht in der Schule, bei der Studienwahl oder in der Berufswelt: Es verläuft ein tiefer Gendergraben durch die Schweiz. Was läuft hier schief und wie können wir das ändern? Die Bildungswissenschaftlerin Elena Makarova ordnet ein.
Elena Makarova
Elena Makarova ist Professorin für Bildungswissenschaften an der Universität Basel und leitet das Institut für Bildungswissenschaften. Sie forscht seit vielen Jahren zu Themen im Bereich Entwicklung, Lernen und Lehren im Hinblick auf Heterogenität im schulischen Kontext, Akkulturation und Adaptation, Berufsorientierung und Gender sowie Serious Games in der Berufsorientierung.
KALEIO: Beginnen wir mit dem Blick auf die Schulzeit. In den sechs PISA-Studien zwischen 2000 und 2015, die auch in der Schweiz durchgeführt wurden, schnitten Mädchen durchschnittlich schlechter in Mathematik und Naturwissenschaften ab als Jungs. Und dies, obwohl sich Fachpersonen einig sind, dass es keine geschlechtsspezifischen Potentiale in diesen Bereichen gibt. Gleichzeitig ist Mathematik das unbeliebteste Fach bei Mädchen. Im Gymnasium beispielsweise wählen viel weniger Mädchen als Jungs die Schwerpunktfächer Physik und Mathematik.
Warum sind Mathematik und Physik so unbeliebt bei den Mädchen?
ELENA MAKAROVA: Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen: In der Wahrnehmung der Mädchen gehören Mathematik und Physik nicht mit dem Frausein zusammen. Wir haben über 3 000 Gymnasiastinnen gefragt, welche Eigenschaften sie mit Mathematik und Physik verbinden. Genannt wurden: hart, ernst, kühl, nüchtern, streng, robust und starr. Mit dem Begriff «Frau» wiederum verbanden sie entgegengesetzte Eigenschaften: weich, verspielt, gefühlvoll, verträumt, nachgiebig, zart und beweglich. Das bedeutet, dass diese Fächer von den Mädchen und Frauen nicht mit dem eigenen Geschlecht als vereinbaren angesehen werden. Hier spiegeln sich gesellschaftlich tief verankerte Stereotypen wider, was als weiblich oder männlich angesehen wird.
70 Prozent der jungen Frauen entscheiden sich für einen Lehrberuf, der niedrige Anforderungen an schulische Mathematikkenntnisse stellt. Leider besteht ausgerechnet ein Zusammenhang zwischen Berufen mit hohen mathematischen Ansprüchen und Löhnen, wie Analysen zeigen. (Dieser Zusammenhang gilt nicht für andere Anforderungen wie beispielsweise sprachliche oder naturwissenschaftliche Kompetenzen). Sprich: Mädchen meiden Lehrberufe, die höhere Mathematikanforderungen stellen und die später zu einer besseren Entlohnung führen.
Ein ähnliches Bild zeichnet sich ab, wenn wir uns die Wahl der MINT-Studienfächer anschauen. (Das Kürzel MINT fasst die Begriffe Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zusammen.)
So erstaunt es auch nicht, dass die Schweiz im Vergleich zu den anderen OECD-Ländern einen der tiefsten Frauenanteile im MINT-Bereich aufweist. Zwar studieren mittlerweile etwa gleich viele Frauen und Männer Fächer wie Chemie, Life Science und Biologie. Ganz anders aber sieht es in den technischen Fächern sowie Bauwesen und Informatik aus.
Schauen wir uns die Folgen davon an: Nimmt man die 30 verbreitetsten Berufe der Schweiz, so lassen sich die meisten von ihnen in traditionelle Männer- und Frauenberufe einteilen. Das ist dann der Fall, wenn mindestens 70 Prozent der Menschen in einem Berufsfeld Männer oder Frauen sind. Die Nachrichtenplattform Swissinfo hat dazu eine Grafik erstellt:
Elena Makarova, warum geht die Geschlechterschere auseinander, wenn es um die Studien- und Berufswahl geht?
Die Berufswahl ist ein sehr langer Prozess, der schon im Kindesalter beginnt und mehrere Phasen durchläuft. In jeder Phase beurteilen wir aufs Neue, ob ein Beruf zu uns passt oder nicht. Je weiter dieser Prozess voranschreitet, desto enger wird die Auswahl.
Im Alter von jungen Erwachsenen spielt das Geschlecht schlussendlich eine zentrale Rolle bei der Berufswahl, auch wenn dies ihnen gar nicht bewusst ist. Ob ein Beruf zu ihnen passt, beurteilen sie massgeblich anhand dessen, ob der Beruf ihrem Geschlecht zugeschrieben wird oder nicht. Das ist für die jungen Menschen wichtiger als das Sozialprestige eines Berufs. Und erst an dritter Stelle kommen ihre eigenen Interessen und Stärken.
Das heisst, eine junge Frau wählt eher einen traditionellen Frauenberuf mit niedrigerem Sozialprestige als einen Beruf, der männlich konnotiert ist, ihr mehr Sozialprestige verleihen würde und – was besonders gravierend ist – ihren Stärken und Interessen entspräche. Wir verlieren dadurch Talente, die in einem anderen Beruf womöglich viel bessere Leistungen erzielen und mehr Erfüllung finden würden.
«Eine junge Frau wählt eher einen traditionellen Frauenberuf mit niedrigem Sozialprestige und schlechteren Verdienstmöglichkeiten, als einen männlich konnotierten Beruf, der ihren Stärken entspräche.»
Welche Berufe sich vermeintlich eher für Männer oder Frauen eignen, wird Kindern und Jugendlichen ständig und überall im Alltag gezeigt und vorgelebt: In den Familien, in der Schule und in den Medien. Frauen sind in Gesundheits- und Sozialberufen sehr stark übervertreten und werden deshalb mit emotionalen und sozialen Kompetenzen assoziiert. Männer dominieren im MINT-Bereich und werden deshalb mit rationalen und technischen Kompetenzen in Verbindung gebracht.
Erschwerend kommt hinzu, dass es bei meisten Menschen keinen Überlappungsbereich gibt, wenn es ums Geschlecht geht. Etwas, was männlich ist, kann nicht weiblich sein und umgekehrt. Es gibt keinen fliessenden Übergang, sondern es sind zwei sich ausschliessende Kategorien. Gleichzeitig macht es die bestehende Geschlechtertrennung auf dem Arbeitsmarkt sehr schwierig, diese Geschlechterstereotypen zu durchbrechen. Deshalb hat das geschlechtsspezifische Image eines Berufs ein grosses Gewicht, wenn Jugendliche beurteilen, ob ein Beruf zu ihnen passt. Individuelle Persönlichkeitseigenschaften treten dabei in den Hintergrund.
Eine weitere beunruhigende Nachricht: Je höher der Männeranteil in einer Berufsgruppe ist, desto höher ist der Anteil der Frauen, die aus der Branche wieder aussteigen. Und: bei den Aussteigerinnen ist die Unterrepräsentation ihres Geschlechts häufiger ein Grund für den Berufswechsel als bei Männern.
Frau Makarova, warum steigen Frauen eher aus männerdominierten Branchen aus?
Wir haben Frauen befragt, wie es ist, als Frau in einem Beruf zu arbeiten, wo sie so stark in der Minderheit sind. Wir konnten klar feststellen, dass sie viel offene und subtile Diskriminierung erleben – sowohl in den Betrieben und Firmen, aber auch in den Berufsschulen. Frauen in dieser Situation werden als Exotinnen wahrgenommen. Sie werden nicht Individuum wahrgenommen, sondern als Frau. Das ist insbesondere in diesen Berufen der Fall, die gesellschaftlich besonders stark mit (physischer) Stärke und Durchhaltevermögen assoziiert werden.
«Als Frau in einem Männerberuf zu arbeiten, erleben viele als enorm belastend.»
Die meisten Frauen in dieser Situation entscheiden sich für eine von zwei Strategien: Entweder sie assimilieren sich und fallen möglichst wenig als Frauen auf oder sie leisten überdurchschnittlich viel, damit ihre Kompetenzen aufgrund ihres Geschlechts nicht in Frage gestellt werden. Beides ist extrem belastend und der Grund, weshalb einige von ihnen sich nach gewisser Zeit entscheiden, den Beruf zu wechseln.
Ein weiterer Grund ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die in den traditionellen Männerbranchen schwieriger ist, weil auch die Arbeitgeber:innen dem nicht viel Priorität einräumen.
Was können beziehungsweise müssen wir ändern?
Im Berufsalltag müssen wir die Strukturen ändern. Ganz wichtig ist hierfür eine günstige Kinderbetreuung. Verbinden Frauen mit einem Beruf (und einer Berufsbranche) auch eine gute Vereinbarkeit mit Familie, so entscheiden sie sich eher dafür und steigen auch weniger aus einer Berufsbranche aus. Zudem müssen Betriebe eine diskriminierungsfreie Kultur etablieren.
Zentral sind natürlich auch ein gesellschaftlicher Wandel und das Aufbrechen traditioneller Rollenzuschreibungen. Nur, die meisten Menschen sind sich über ihre eigenen Genderstereotype gar nicht bewusst. Wir alle müssen eigene Haltungen und Annahmen reflektieren und fragen, was wir an Kinder und Jugendliche weitergeben.
«Betriebe müssen eine diskriminierungsfreie Kultur etablieren und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gewährleisten, dann arbeiten auch mehr Frauen in traditionellen Männerbranchen.»
Die Schule hat einen grossen Wirkungshebel. Für die Lehrpersonen bedeutet das aber auch eine grosse Herausforderung, weil sie nicht nur ihre eigenen Genderstereotype reflektieren und durchbrechen müssen, sondern auch jene der Schüler:innen. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich oft um unbewusste, sehr subtile Formen der Diskriminierung handelt, die auf Mädchen dennoch einen grossen Einfluss haben. Zum Beispiel indem eine Lehrperson einem Jungen ein ausführlicheres Feedback auf einen Mathematiktest gibt als einem Mädchen. Mädchen reagieren darauf und verlieren Selbstvertrauen in diesen Bereichen, was zu schlechteren Leistungen führt.
Wir wissen aus Ländern, in denen mehr Frauen im MINT-Bereich vertreten sind, dass dort auch weniger stereotype Zuschreibungen vorhanden sind. Das heisst, die Sichtbarkeit ist extrem wichtig und hat einen grossen Einfluss. Ich denke da an Schulbücher. Gerade in Lernunterlagen in den Fächern Mathematik, Physik oder Chemie sind fast ausschliesslich Männer als Wissenschaftler und Erfinder abgebildet. Es gibt dort keine weiblichen Vorbilder für Mädchen. Aus diesem Grund bemühen wir uns Lehrpersonen für das Thema zu sensibilisieren und Schulbücher aber auch Unterlagen zur beruflichen Orientierung auf die Kriterien der Gendergerechtigkeit hin zu überprüfen und zu verbessern.
«Mädchen brauchen weibliche Vorbilder – gerade auch in Lehrbüchern. Erfinderinnen, Wissenschaftlerinnen und Forscherinnen sind noch viel zu selten abgebildet.»
Neben solchen kontinuierlichen Massnahmen sind auch punktuelle Aktionen wie spezielle MINT-Förderprogramme wichtig, auch wenn sie einen weniger grossen Einfluss haben. Auf eine persönliche Biographie allerdings können sie zu einem bestimmten Zeitpunkt richtungsweisend sein.
Mich stimmt positiv, dass wir in der Gesellschaft einen Wandel erleben. Dazu gehört auch die Entwicklung, dass viele Menschen Geschlechter heute nicht mehr in zwei Kategorien teilen, sondern als Kontinuum sehen und auch einen non-binären Bereich anerkennen. Das alles hilft, die bestehenden Geschlechterkategorien zu durchbrechen.
Wir brauchen einen Wandel in den Köpfen und Strukturen – wir haben noch viel zu tun!
Weiterführende Informationen:
Der Artikel bezieht sich auf den Bildungsbericht Schweiz aus dem Jahr 2018. Am 7.3.23 wird der neuste Bericht publiziert. Sämtliche Bildungsberichte können hier nachgelesen werden.
In der rund 10-minütigen Podcastfolge des Schweizer Lehrstellenportals Yousty erklärt Thomas Gerber von der Planzer Transport AG, wie es ihnen gelingt, Mädchen für den Beruf der Lastwagenfahrerin zu begeistern.