Wir zeigen Mädchen eine Welt voller Möglichkeiten.
Photo: DOJ/AFAJ, David Bieli

Warum Schminkkurse in Jugendtreffs keine Bankrotterklärung sind

Weiterhin besuchen mehr Jungs als Mädchen den Jugendtreff. Das soll sich endlich ändern. Mädchenspezifische Angebote sind das Eine. Das Andere: reflektierte Jugendarbeiter*innen.

Photo: DOJ/AFAJ, David Bieli
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Gerade jetzt, mitten in der Corona-Pandemie, während der viele Jugendtreffs geschlossen bleiben müssen, wird klar, wie wichtig das sogenannte zweite Wohnzimmer für Jugendliche ist. Es ist ein Ort, um sich ausserhalb von zu Hause mit Freundinnen und Freunden zu treffen und Spass zu haben. Es ist auch ein Ort, um Sorgen und Probleme mit Gleichaltrigen oder mit den Jugendarbeiter*innen zu besprechen.

20 Prozent Unterschied ist immer noch zu viel

Die Jugis der offenen Jugendarbeit sind wichtig. Umso störender ist die Tatsache, dass mehr Jungs als Mädchen dieses Angebot nutzen. Eine Untersuchung, die der Schweizerische Dachverband Offene Kinder- und Jugendarbeit (DOJ) gemeinsam mit der Fachhochschule Nordwestschweiz durchgeführt hat, zeigt, dass im Durchschnitt 60 Prozent der Jugi-Besuchenden Jungs sind und 40 Prozent Mädchen (Stand 2019). Eine weitere Erkenntnis: Die Schere öffnet sich bei den Jugendlichen erst ab etwa 12 Jahren.

Die gute Nachricht: Das Ungleichgewicht fällt weniger deutlich aus als von Fachpersonen wie Tobias Bauer, der beim DOJ seit zwei Jahren ein Projekt für die genderreflektierte offene Jugendarbeit leitet, befürchtet wurde. Das liegt wohl daran, dass schon einiges für die Förderung der Mädchen unternommen wurde. So kritisierten feministische Jugendarbeiterinnen bereits vor 30 Jahren, dass die Jugendarbeit überwiegend Jungenarbeit sei, und begannen deshalb, Mädchentreffs zu gründen.

«Diese Chance gilt es zu nutzen.»

«Zwar würden bis heute immer noch mehr Ressourcen in Projekte für Jungs fliessen», sagt Bauer. Den wichtigsten Grund für das Ungleichgewicht sieht er aber woanders: Die Jugendtreffs existierten nämlich nicht in einem Vakuum, sondern sind ein Abbild der Gesellschaft. «Jungs nehmen nach wie vor mehr Raum ein, sei es im öffentlichen Raum, in der Schule oder auch zu Hause, weil sie so sozialisiert wurden», sagt Bauer. Dennoch ist er überzeugt, dass die offene Jugendarbeit den Jugendlichen die Chance bietet, etwas Neues zu lernen und neue Rollen einzunehmen. «Diese Chance gilt es zu nutzen.»

Photo: DOJ/AFAJ, David Bieli
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Doch wenn es darum geht, mehr Mädchen mit der offenen Jugendarbeit zu erreichen, finden sich Jugendarbeiter*innen in einem Zwiespalt wieder. Ein Spannungsfeld, das sich auftut zwischen spezifischen, mädchentypischen Angeboten und dem Ziel, solche Genderstereotype aufzubrechen.

Spagat zwischen Schminktipps und Boxkurs

Es ist ein Zwiespalt, den auch Leona Klopfenstein, Projektleiterin beim Zürcher Dachverband für Offene Kinder- und Jugendarbeit, immer wieder empfindet. Umso mehr, als sie auch Leiterin der Fachgruppe Queer beim DOJ ist und sich in dieser Funktion für Jugendliche einsetzt, die sich mit keiner eindeutigen Geschlechterzuschreibung identifizieren. Cupcakes backen und Schminkabende für Mädchen – wenn Jugendarbeiter*innen solche Veranstaltungen organisieren, komme sie immer wieder ins Grübeln.

Klar wäre es schön, wenn das Geschlecht keine Rolle spielte, sagt Klopfenstein. Doch einfach so zu tun, als ob die Welt geschlechterlos wäre, damit hole man die Jugendlichen nicht ab. «Für die allermeisten von ihnen ist das Geschlecht und die Auseinandersetzung damit ein extrem wichtiges, wenn nicht gar das wichtigste Thema.» In diesem Zusammenhang sehe sie die Berechtigung für geschlechterspezifische Angebote.

«Für Jugendliche ist die Auseinandersetzung mit dem Geschlecht eines der wichtigsten Themen überhaupt.»

«Bei der offenen Jugendarbeit ist es wichtig, dass Jugendarbeiter*innen nicht einfach Angebote schaffen, sondern dies gemeinsam mit den Jugendlichen tun», erklärt Klopfenstein. Wenn sich also Mädchen eher einen Schminkabend anstatt eines Boxkurses wünschen, dann sei das in Ordnung. Umso wichtiger sei es aber auch, an einem solchen Abend mit den Mädchen beispielsweise gängige Schönheitsideale zu hinterfragen. «Im Gespräch findet dann die eigentliche Jugendarbeit statt», erklärt Klopfenstein.

Dass ein solcher geschützter Rahmen Raum bietet für sehr persönliche oder gar intime Gespräche, das beobachtet auch Claudia Gunzenhauser. Die Jugendarbeiterin ist Mitglied der Kerngruppe der DOJ-Fachgruppe Gender, die bis vor Kurzem noch Fachgruppe Mädchenarbeit hiess. Komme hinzu, so Gunzenhauser, dass spezielle Mädchenabende helfen würden, den Eintritt der Mädchen in den Jugendtreff zu erleichtern.

Nicht nur männlich konnotierte Eigenschaften schätzen lernen

Gleichzeitig sehe sie im Alltag mit den Jugendlichen, dass das Bedürfnis nach Geschlechtertrennung oft gar nicht da sei. Zudem beobachte sie, wie sich das Verhalten der Mädchen in den letzten Jahren verändert habe. «Heute spielen sie immer öfters auch Fussball und machen mit beim Billard oder Pingpong», sagt Gunzenhauser. In ihrem Jugendtreff in Basel erlebe sie die Mädchen oft als sehr durchsetzungsstark, zum Teil sogar rabiat.

Photo: DOJ/AFAJ, David Bieli
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Einerseits sei das eine Stärke. Andererseits mache sie diese Beobachtung nachdenklich. «Ich habe das Gefühl, dass die Mädchen ihr Verhalten einfach angepasst haben und sich männlich und dominant verhalten wollen wie die Jungs.» Dabei wäre es genauso wünschenswert, dass Jungs vermeintlich weibliche Eigenschaften bei sich annehmen und dies nicht als Schwäche ausgelegt würde, so Gunzenhauser. Deshalb sei es ebenso essentiell, mit den Jungs Geschlechterstereotype und Rollenbilder zu diskutieren und zu hinterfragen wie mit den Mädchen.

Selbstreflexion, das ist auch für Tobias Bauer das Schlüsselwort, um in den Jugendtreffs noch mehr Gleichstellung zu erreichen. Primär gehe es nämlich darum, dass sich die Jugendarbeiter*innen selbst hinterfragen. «Wer übernimmt welche Aufgabe und Rolle im Team? Ist es immer der Mann, der alles Technische und Handwerkliche macht, während sich die Jugendarbeiterin um das leibliche Wohl der Jugendlichen kümmert? Das sind Fragen, die wir uns stellen müssen», so Bauer. Denn schliesslich haben die Erwachsenen eine Vorbildfunktion.

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