Collage Titelbild: © Anna Lach- Serediuk/Kolażanki
Nirgends ist der Wandel der Gesellschaft so spürbar wie in den Klassenzimmern der Volksschule. Hier versammeln sich Kinder mit sehr unterschiedlichen Lebensrealitäten. Das kann eine Bereicherung sein. Es ist aber auch eine grosse Herausforderung – vor allem für die Lehrperson. Insbesondere dann, wenn es viele verhaltensauffällige Kinder in der Klasse gibt. Wir sprechen über einen vielversprechenden Lösungsansatz mit dem Bildungswissenschaftler und Experten für Sonderpädagogik Dennis Hövel.
KALEIO: Herr Hövel, Sie sagen, das Beste, was Lehrpersonen tun könnten, um mit Stress und verhaltensauffälligen Kindern umzugehen, sei, in die Beziehungsarbeit zu investieren. Ist es wirklich so simpel?
Dennis Hövel: Natürlich ist das eine Vereinfachung. Schliesslich gibt es keine monokausalen Zusammenhänge, sondern viele unterschiedliche Einflussfaktoren. Studien belegen aber klar: Die Lehrer.innen-Schüler:innen-Beziehung ist sehr bedeutsam für den Lernerfolg, das Klassenklima und eine gute Beziehung der Schüler:innen untereinander. Viele Lehrpersonen aber gehen die Beziehungsarbeit intuitiv an. Die Rede ist dann von Persönlichkeit, Unterrichtsstil, Sympathie etc.
Was ist daran falsch?
Weil dies letztendlich Dinge sind, die ich nicht beeinflussen kann. Ich kann die Kinder nicht zwingen, mich sympathisch zu finden, meinen Unterrichtsstil oder mich zu mögen. Viele Lehrpersonen fühlen sich jedoch gestresst, weil sie einen Kontrollverlust erleben und das Gefühl haben, sie können den Unterricht nicht selbstwirksam gestalten.
Die Wahrscheinlichkeit, dass unterschiedliche Lehrpersonen mit unterschiedlichen von Schüler:innen eine gewinnbringende Interaktion hinbekommen, ist grösser, wenn man sich als Lehrperson strukturiert mit sozial-emotionalem Lernen beschäftigt.
Sozial-emotionales Lernen (SEL) wird als die Förderung von fünf miteinander verbundenen Gruppen von kognitiven, affektiven und Verhaltenskompetenzen verstanden: Selbstwahrnehmung, Selbstregulation, Fremdwahrnehmung, Beziehungs- und Problemlösefertigkeiten. Im schweizerischen Lehrplan 21 ist SEL in den überfachlichen Kompetenzen verankert, jedoch nicht als eigenes Fach, sondern nur als frei zu gestaltende Zusatzanforderung in bestehenden Fächern.
Wäre es nicht einfacher, die verhaltensauffälligen Schüler:innen zu separieren?
Nein.
Aber die Stimmen, die genau dies fordern, werden immer lauter. Dazu gehören nicht nur Parteien wie die FDP, sondern auch viele Lehrpersonen.
Unter einem grossen Leidensdruck neigt der Mensch dazu, kurzfristige Lösungsansätze zu bevorzugen, die aber nicht nachhaltig sind. Wir haben schon heute einen Mangel an Lehrpersonen und Heilpädagog:innen. Wenn wir nun mehr Kinder separieren, brauchen wir noch mehr Personal. Schlussendlich verschärfen wir mit diesem Ansatz also nur den Fachkräftemangel. Ausserdem halte ich die Separierung von Kindern auch moralisch für fragwürdig. Die bessere und nachhaltigere Lösung ist, das sozial-emotionale Lernen zu fördern.
Dennis Hövel ist Bildungsforscher und Professor für Sonderpädagogik an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich. Er schreibt Bücher und Lehrmittel über das sozial-emotionale Lernen.
Wenn wir damit eine Art Wundermittel haben, wie kommt es, dass das sozial-emotionale Lernen nicht schon etabliert ist an den Schulen?
In unserer Gesellschaft ist die Meinung weit verbreitet, dass sozial-emotionale Kompetenzen etwas Anerzogenes seien. Entsprechend sehen viele nicht die Bildungsinstitutionen, sprich die Schule, in der Verantwortung, sondern die Eltern, die die Kinder erziehen. Dabei übersehen sie, dass sozial-emotionale Fähigkeiten etwas sind, was wir genau wie Lesen und Schreiben lernen können. Ein solches Fach gibt es im Moment nicht. Viele Lehrpersonen wissen nicht, wie sie sozial-emotionales Lernen unterrichten können. An den pädagogischen Hochschulen gibt es kein verbindliches Studienfach. Die Einrichtung eines entsprechenden Studienfaches wäre meiner Einschätzung nach von Vorteil.
Warum?
Wenn wir ein demokratisches System aufrechterhalten wollen, das auch wirtschaftlich erfolgreich ist, dann sind Fähigkeiten wie Empathie, soziale Interaktionen, Kreativität und verantwortungsvolle Entscheidungsfindung sehr, sehr entscheidende Punkte. Trotzdem investieren wir wenig bis gar keine Zeit in die systematische Vermittlung dieser Schlüsselkompetenzen. Und das, obwohl diese Lebenskompetenzen auch eine präventive Wirkung für die mentale Gesundheit haben.
In der Schweiz erkrankt jede zweite Person im Laufe ihres Lebens wenigstens einmal an einer Depression. Wie sähe diese Quote aus, wenn wir ab dem Kindergarten bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit sozial-emotionales Lernen unterrichten würden? Meine Prognose: Deutlich geringer.