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Geschlechterstereotype im Film: Eine Anleitung für einen gelungenen Filmabend

Collage Titelbild: © Anna Lach-Serediuk Kolażanki

In einem Film versinken, in eine fremde Welt abtauchen – das ist ein einzigartiges Erlebnis, für Erwachsene wie auch für Kinder. Doch Filme, Serien, Videos und animierte Bilder im Allgemeinen können viele Geschlechterstereotype vermitteln. Etwa indem sie Eigenschaften zeigen, die angeblich typisch weiblich oder typisch männlich sind. Wenn wir immer wieder Personen oder Figuren auf der Leinwand sehen, die die gleichen geschlechtsspezifischen Eigenschaften aufweisen, verinnerlichen wir nach und nach (gegen unseren Willen), wie eine Frau oder ein Mann vermeintlich sein müssen!

Aber wie kann man mit seinen Kindern Filme anschauen und geniessen und sie für geschlechterspezifische Klischees sensibilisieren? Delphine Jeanneret und Cécilia Bovet, Co-Direktorinnen des Festivals Cinéma Jeune Public in Lausanne und Pully, haben ein paar Vorschläge.

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WICHTIG

Es geht natürlich nicht darum, sich diesen oder jenen Film, der Geschlechterstereotype vermittelt, zu verbieten oder sich schuldig zu fühlen, wenn man ihn sich ansieht! Es geht nur darum, einen kritischen Geist zu bewahren, indem wir unseren Blick und unser Bewusstsein schärfen, um das, was wir sehen, zu analysieren. Genau wie wir das bei Werbung auch tun. 🙂

Filmische Erzählperspektive

Filmische ErzählperspektiveEin Film ist niemals neutral. Er zeigt immer die Sichtweisen derjenigen, die ihn geschrieben, inszeniert, gefilmt und geschnitten haben. Beispielsweise kann es einen Unterschied machen, ob ein Kameramann oder eine Kamerafrau eine Frau filmt. Er oder sie werden die Frau möglicherweise anders in Szene setzen. In vielen Filmen und Zeichentrickfilmen werden die männlichen Figuren als aktiv dargestellt, sie lösen Konflikte oder Rätsel, während die weiblichen Figuren eher passiv sind, nur dazu dienen, dem Helden zu helfen oder ihn stärker erscheinen zu lassen, und an sich keine echte Tiefe besitzen. Manchmal werden Frauen sogar wie Objekte behandelt oder verkörpern Klischees über das weibliche Geschlecht. Zum Beispiel denken sie nur an die Ehe oder an oberflächliche Dinge. Hier sind einige Beispiele für Filme mit sehr stereotypen Charakteren: Aschenputtel, Superman, Indiana Jones, Toy Story.

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Tipp

Denk mit deiner Familie über die letzten drei Filme nach, die ihr zusammen geschaut habt.

1) Wie wurden die Protagonistinnen dargestellt? Wählt zum Beispiel drei Adjektive aus, um sie zu beschreiben:
sanft – liebevoll – verliebt – wertschätzend – schön – süss – graziös
neugierig – aktiv – mutig – übermütig – intelligent – stark – überraschend
Wenn ihr mehr Adjektive aus der ersten Zeile benutzt habt, sind die Frauenfiguren sicher sehr stereotyp dargestellt worden.

2) Verändert oder entwickelt sich die Protagonistin im Laufe des Films weiter?
Wenn Frauenfiguren im Film sich nicht weiterentwickeln, ist das oft ein Zeichen dafür, dass sie sehr stereotyp dargestellt werden!

Der Bechdel-Test

Um den Sexismus in Filmen zu messen, wurde ein ganz einfacher Test entwickelt: der Bechdel-Test. Dieser soll die Überrepräsentation von männlichen Protagonisten oder die Unterrepräsentation von weiblichen Charakteren in einem fiktionalen Werk aufzeigen. Um diesen Test zu bestehen, muss ein Film Folgendes enthalten:

  1. mindestens zwei weibliche Charaktere, die einen Namen haben,
  2. mindestens zwei weibliche Charaktere, die miteinander sprechen, …
  3. … und zwar über etwas, das nicht mit einem Mann zu tun hat.

Zum Vergleich: Nur 30 % der Disney-Filme bestehen den Bechdel-Test!

Hier sind einige Beispiele für Filme, die den Bechdel-Test bestehen: Encanto, Rapunzel, Jurassic Parc, Jumanji, Harry Potter, Mary Poppins, Die Aristocats, Bernard und Bianca, Merida, Die Schneekönigin, Mein Leben als Zucchini, Princess Mononoke.

Und hier einige, die ihn nicht bestehen: Kirikou und die Zauberin, Shrek, Toy Story, Aladdin, Pocahontas, Mulan, Ratatouille.

Hier ist eine Seite, die Disney-Filme auflistet, die den Bechdel-Test bestehen oder nicht bestehen (auf Französisch): https://www.epopia.com/blog/edu/education/test-bechdel-disney/ 

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Tipp

Macht beim nächsten Film, den ihr schaut,den Bechdel-Test!

Sexismus in der Filmindustrie

Filme zu produzieren ist Teamarbeit, bei der jede und jeder eine klar definierte Rolle hat, damit ein Film überhaupt zustande kommt: Produktion, Regie, Bild, Ton, Schnitt, Postproduktion etc. Nun sind die Filmberufe – obwohl es unendlich viele davon gibt – oft sehr hierarchisch organisiert. Tatsächlich war das Filmgeschäft lange Zeit in Männerhand. Wenn man jedoch ein wenig tiefer gräbt, stellt man fest, dass auch Frauen seit den Anfängen des Kinos in sehr wichtigen Positionen tätig waren und ebenfalls Filmgeschichte geschrieben haben! Alice Guy-Balché (1873–1968) zum Beispiel war eine französische Regisseurin, Drehbuchautorin und Filmproduzentin, die sowohl in Frankreich als auch in den USA arbeitete. Ihr Film La Fée aux choux (1896) machte sie zur ersten Regisseurin der Filmgeschichte, aber ihre Arbeit wurde erst in den letzten Jahren wiederentdeckt.

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Tipp

Seht euch im Original den Dokumentarfilm «Be Natural : l’histoire cachée d’Alice Guy-Blaché» von Pamela B. Green (USA, 2018, 98′) oder den Dokumentarfilm «Alice Guy, die vergessene Filmpionierin» an (2020, ARTE).

Zahlen sprechen für sich

Im Jahr 2019 waren in US-amerikanischen Serien 54 % der Charaktere männlich und 90 % heterosexuell. Die meisten Filme und Geschichten spielen also aus der Sicht eines weissen, heterosexuellen Mannes über 50 – denn sie sind es, die noch immer die meisten Filme produzieren oder Regie führen.

Laut einer Studie des Bundesamts für Kultur in der Schweiz aus dem Jahr 2012 werden an den Filmhochschulen gleich viele Frauen und Männer ausgebildet. Doch trotz eines ausgewogenen Verhältnisses während der Ausbildung herrscht später in der Berufsausübung eine grosse Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die Studie verweist insbesondere auf die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern im Schweizer Film. Was die Gleichstellung auf der Leinwand betrifft, so gibt es mehr weibliche Hauptrollen in Spielfilmen (47 %) als in Dokumentarfilmen (34 %), aber der Anteil sinkt stark, sobald die Frauen 40 Jahre alt sind.

Wusstest du schon?

Der prozentuale Anteil von Frauen in Schlüsselpositionen im Schweizer Film liegt bei:
53% im Schnitt
34% im Drehbuch
35% in der Produktion
29% in der Regie
13% an der Kamera

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Tipp

Die Schweizer Filmhochschulen (HEAD in Genf, ECAL in Lausanne, ZHdK in Zürich, HSLU in Luzern, CISA in Lugano) organisieren jedes Jahr einen Tag der offenen Tür, um alle Berufe der Filmbranche zu präsentieren und die Möglichkeit zu geben, Frauen zu treffen, die diese Berufe ausüben.

Was steckt hinter dem sogenannten weiblichen Blick?

Wie oben erläutert, waren deie Erzählperspektive und die Kameraführung, die die Filmindustrie lange Zeit beherrschten, geprägt durch den Blick der Männer. Die Filmtheoretikerin Laura Mulvey (Buch: Visual Pleasure and Narrative Cinema)erklärte 1975, dass das Hollywood-Kino ein Instrument der patriarchalen Herrschaft sei, und sprach vom allgegenwärtigen männlichen Blick (male gaze): In den meisten Filmen erscheinen Frauen als Objekte, die von Männern betrachtet werden.

Laura Mulvey unterscheidet drei Arten von Blicken: den Blick der Kamera auf die Schauspielerinnen und Schauspieler, den Blick der Figuren untereinander und den Blick des Publikums, das den Film anschaut. Glücklicherweise ändert sich das! Immer mehr Filme katapultieren uns in den Kopf einer weiblichen Figur. Zum Beispiel in Ursula Meiers Film Starke Schultern (2003) oder Jennifer Lees Die Schneekönigin (2013) teilen die Zuschauerinnen die Gefühle der Heldinnen.

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Tipp

Denkt als Familie an eine bestimmte Filmszene (das kann auch ein Zeichentrickfilm sein). Analysiert gemeinsam diese Szene nach den folgenden Kriterien:
– Wie werden die Frauen dargestellt? Wie sehen sie aus? Welchen Charakter haben sie? Wie drücken sie sich aus?
– Wie zeigt die Kamera sie? Sind sie im gesamten Bild zu sehen? Oder sieht man nur einen Teil von ihnen? Aus der Vogel- oder der Froschperspektive?
– Spielen diese Frauen eine Rolle in der Geschichte? Oder könnte man sie herausschneiden, ohne dass die Geschichte beeinflusst würde?

Filme, die einen anderen Blickwinkel bieten

Mein Leben als Zucchini von Claude Barras (2016) => gleichberechtigte weibliche und männliche Charaktere / ab 6 Jahren
Die Schneekönigin von Jennifer Lee (2013) => starke, zähe und mutige Protagonistin / ab 6 Jahren
Moonrise Kingdom von Wes Anderson (2012) => unabhängiges Mädchen / ab 10 Jahren
Tomboy von Céline Sciamma (2011) => Mädchen-Junge, der sich nicht um Geschlechterstereotype schert / ab 10 Jahren
Little Miss Sunshine von Valerie Faris und Jonathan Dayton (2006) => unabhängige junge Frau / ab 10 Jahren
Nausicaä aus dem Tal der Winde von Hayao Miyazaki (1984) => viele starke weibliche Charaktere / ab 10 Jahren
Captain Marvel von Anna Boden, Nia DaCosta und Ryan Fleck (2019) => Superheldinnen / ab 12 Jahren
Die Töchter des Dr. March von Greta Gerwig (2019) => weibliche Charaktere, die sich emanzipieren / ab 12 Jahren
Die Sprinterin von Ursula Meier (2003) => zeigt die Perspektive einer jungen Sportlerin / ab 12 Jahren
Titanic von James Cameron (1997) => kämpferische Frau / ab 12 Jahren
Die Addams Family von Barry Sonnenfeld (1991) => etwas andere Familie mit starken Frauen / ab 12 Jahren

Zum Weiterlesen/Weiterschauen

Für Eltern und Kinder: Buchempfehlungen mit ganz viel Girl Power: https://www.mintundmalve.ch/blog/tags/feminismus 

Kinder- und Jugend-Filmportal: https://www.kinder-jugend-filmportal.de/festivals/gleichberechtigung-als-gelebte-utopie-im-film.html 

Für Eltern: Wie umgehen mit Stereotypen in Kindermedien: https://www.deutschlandfunkkultur.de/sexismus-stereotype-kindermedien-100.html 


Autorinnen: Delphine Jeanneret und Cécilia Bovet sind Co-Direktorinnen des Festivals Cinéma Jeune Public. Das Festival Cinéma Jeune Public bietet zahlreiche Filme, die Geschlechterstereotype dekonstruieren: (auf Französisch) https://festivalcinemajeunepublic.ch/

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