Collage Titelbild © Anna Lach-Serediuk.
Jungen die Abenteurer, Mädchen die Vorsichtigen? Dieses Klischee hat die Forschung längst widerlegt. In jedem Mädchen schlägt das Herz einer Pippi Langstrumpf.
Was haben Dornröschen, Rapunzel, Schneewittchen, Aschenputtel und Rotkäppchen gemeinsam?
In all diesen Märchen geraten junge Frauen in Not und werden von mutigen Männern gerettet. Während die ersten vier passiv ausharren und für ihre Reinheit belohnt werden, gerät Rotkäppchen in ihre missliche Lage, weil sie unartig ist und den Waldweg verlässt (böses Mädchen!).
Die Botschaft ist klar und tief in unserer Erzählkultur verwurzelt: Mädchen sind vorsichtig, ängstlich und schutzbedürftig, Jungen mutig, risikofreudig und abenteuerlustig.
Diese Muster wirken bis heute – oft unbewusst – in die Erziehung hinein. Jungen wird tendenziell mehr zugetraut und sie werden eher ermutigt, Neues auszuprobieren, während Mädchen häufiger ermahnt werden, vorsichtig zu sein. Das beginnt im Elternhaus, setzt sich in der Schule fort und zeigt sich beim Spiel auf dem Pausenhof ebenso wie im Sportunterricht.
Das Problem daran?
Diese Fokussierung auf Sicherheit führt dazu, dass Mädchen oftmals weniger Gelegenheiten erhalten, Selbstvertrauen und Abenteuerlust zu entwickeln. Umgekehrt ist es für Jungen schwieriger, zu Gefühlen wie Angst zu stehen.
Wie stark Kinder diese geschlechterspezifische Zuschreibung verinnerlicht haben, zeigt u.a. eine Langzeitstudie aus der Schweiz und Grossbritannien. Die Forscher:innen untersuchten, ob und wie sich die Werte von Primarschulkindern im Verlauf der Jahre änderten.
Der wichtigste Wert ist zwar sowohl für Mädchen wie auch Jungen Wohlwollen, also die Fürsorge für andere. Hingegen stufen Mädchen Sicherheit deutlich höher ein als Jungen. Für Jungen ist dagegen Spass und Abenteuerlust deutlich wichtiger als für Mädchen. Ein Muster, das auch in anderen Studien beobachtet wird.
Verhalten und Selbstbild klaffen oft auseinander
Nur: Beeinflusst das auch das Verhalten der Kinder? Sind Jungen tatsächlich mutiger als Mädchen? Das wollte eine Forschungsgruppe aus Norwegen wissen.
Eine Gruppe von über 300 Kindern wurde nach ihrer Selbsteinschätzung befragt. Jungen schätzten sich selbst als abenteuerlustiger ein als Mädchen. Die Mädchen beschrieben sich deutlich häufiger als vorsichtig.
Tatsächlich aber verhielten sie sich nicht so unterschiedlich, als sie sich durch einen virtuellen Balancier-Parcours bewegen mussten. Dabei konnten die Kinder die Route frei wählen und sowohl sichere als auch riskantere Routen wählen.
Zwar bewegten sich Jungen im Durchschnitt schneller durch den virtuellen Parcours. Mädchen erkundeten jedoch ebenso häufig wie Jungen die riskanteren Bereiche wie hohe Säulen oder schmale Plattformen.
Dass die Jungen den Parcours im Durchschnitt schneller absolvierten, könnte damit zusammenhängen, dass sie Risiken tendenziell niedriger einschätzen als Mädchen – ein Muster, das ebenfalls in verschiedenen Untersuchungen beobachtet wurde.
Zurück zur Parcours-Studie: Ob sich ein Kind für eine sicherere oder riskantere Route entschied, hing nicht vom Geschlecht, sondern davon ab, ob ein Kind bereits Erfahrung im Klettern hatte, von seiner Persönlichkeit und wie selbstwirksam es sich erlebte.
Fazit: Mut ist vielfältig und geschlechtsunabhängig
Ob jemand als mutig gilt oder nicht, hängt nicht zuletzt auch davon ab, wie wir Mut definieren. Mut ist nicht gleich Mut.
Auch diesbezüglich zeigt eine Studie, dass die Anzahl mutiger Handlungen bei Männern und Frauen gleich hoch ist. Jedoch zeigen Frauen mutiges Verhalten häufiger im sozialen Bereich (z. B. gegen Mobbing), Männer hingegen eher in konfliktreichen Situationen.
Solange wir Mut vor allem mit Risiko, Härte und Konfrontation verbinden, laufen wir Gefahr, leisere Formen von Mut – etwa Zivilcourage, das Eintreten für andere oder das Überwinden innerer Ängste – zu übersehen.
Das Bild wandelt sich
Zum Glück zeigen immer mehr moderne Erzählungen komplexe und zugleich starke Figuren, egal welchen Geschlechts.
Während Peter Parker als Spider Man mutige Taten vollbringt, ist er gleichzeitig ein verletzlicher Held, der offen mit Angst und Überforderung umgeht. Katniss Everdeen (Die Tribute von Panem) kämpft ebenfalls mutig und strategisch, jedoch nicht aus Liebe, sondern für Gerechtigkeit.
Tatsächlich gibt es auch ein traditionelles Märchen, das mit einer viel weniger stereotypischen Frauenrolle überrascht. Im Märchen Die kluge Bauerntochter überlistet eine junge Frau den König und wird Königin. Dies gelingt ihr nicht wegen klassischer Tugenden wie Gehorsam oder Schönheit, sondern dank ihres Witzes, Selbstvertrauens und ihrer Intelligenz.
Was heisst das für Bezugspersonen von Kindern?
Unabhängig vom Geschlecht sollten Kinder die Möglichkeit erhalten, Neues auszuprobieren, zu wachsen und eigene Grenzen auszutesten. Das beginnt im Kleinen: beim offenen Gespräch über Angst und Mut, bei der Sprache, die wir verwenden, bei den Möglichkeiten, die wir Kindern geben, und den Rollenbildern, die wir ihnen vorleben.
Praktische Tipps für Eltern und Lehrpersonen
- Sprache reflektieren: z. B. Sätze vermeiden wie «Ein Indianer kennt keinen Schmerz» oder «typisch Mädchen».
- Mädchen wie Jungen gleichermassen zum Ausprobieren, Klettern, Scheitern und Wachsen ermutigen.
- Über Mut und Angst sprechen und dabei bewusst Geschlechterstereotype aufbrechen.
- Unterschiedliche Formen von Mut sichtbar machen – in Geschichten, Büchern, Gesprächen.
Für die fachliche Unterstützung bei diesem Artikel danken wir Jana Lindner.
Jana Lindner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. Geschlechtergerechtigkeit in Bildung und Erziehung. Sie arbeitet in Projekten wie «Gendersensible MINT-Vorbilder» und «Auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter in der Bildung» mit.