Collage Titelbild: © Anna Lach-Serediuk
Viele Eltern kennen Mobbing vor allem von der Arbeit oder vom Schulhof. Schon längst aber findet es unter Kindern und Jugendlichen auch im digitalen Raum statt – vor allem über soziale Medien oder Gruppenchats. Jolanda Spiess-Hegglin – selbst Opfer digitaler Gewalt – engagiert sich seit 2016 mit ihrem Verein NetzCourage gegen Hass und Mobbing im Netz. Wir haben sie gefragt: Was können Eltern tun, um ihre Kinder zu schützen?
Frau Spiess-Hegglin, was genau versteht man eigentlich unter Cybermobbing?
Cybermobbing ist die Verlagerung des Mobbings vom analogen in den digitalen Raum. Das Mobbing, das heute zwischen Jugendlichen im schulischen oder ausserschulischen Kontext vor allem online stattfindet, ist gewalttätiger, als es das früher war. Früher konnte man im Notfall noch die Schule wechseln. Hinzu kommt, dass es noch viele andere Ebenen von Cybermobbing gibt. Ich benutze dafür den Überbegriff der digitalen Gewalt. Darunter fallen die Herabsetzung, Belästigung, Diskriminierung und Nötigung anderer Menschen. Auch Sexting oder das Zusenden von pornografischem Material können Teil digitaler Gewalt sein. Das Verrückte ist, dass digitale Gewalt nach wie vor nicht im Gesetz verankert ist.
«Frauen werden aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Sexualität beschimpft. Sie werden zum Objekt degradiert. Bei Männern geht es eher um Kompetenz oder Intelligenz.»
Welche Rolle spielt dabei konkret geschlechtsspezifische Gewalt im Netz? Studien zeigen deutlich, dass 10 Prozent mehr Mädchen Opfer digitaler Gewalt werden.
Eine ganz grosse. Das kann man nicht wegdiskutieren. Weibliche Personen werden um ein 27-faches mehr belästigt als männliche. Und Täter sind vor allem männliche Personen. Das zeigt auch meine Erfahrung. Ich habe gegen etwa hundert Belästiger Strafanzeige gestellt. Nur drei davon waren Frauen. Einen grossen Unterschied bildet auch die Art der Beschimpfung. Frauen werden aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Sexualität beschimpft. Sie werden zum Objekt degradiert. Bei Männern geht es eher um Kompetenz oder Intelligenz.
Viele wissen auf Anhieb gar nicht, wie sie sich selbst wehren können, ohne gleich Strafanzeige stellen zu müssen. Welche Optionen gibt es da?
Die Strafanzeige ist immer der letzte Weg. Ich kann mich zunächst an Fachstellen wenden, wenn ich gerade keine Vertrauensperson um mich habe. Dann ist sicher die kantonale Opferhilfestelle ein Ort, wo es geschulte Spezialist:innen gibt. Dort gehört es dazu, dass ein Kind kostenlos Unterstützung bekommt, wenn es Opfer sexueller Belästigung wird oder Dickpics erhält. Letzteres kann man über das Anzeigetool #NetzPigCock anzeigen. Ist der Absender anonym, kann man in den meisten Fällen nichts tun. Sobald aber eine Nummer angezeigt wird, kann diese nachverfolgt werden. Da sollte man unter Umständen den Weg zur Polizei schon in Betracht ziehen.
«Es geht vor allem darum, sein Kind ernst zu nehmen und die Situation nicht zu verniedlichen, indem man sagt: ‹Der meint das doch gar nicht so!›»
Was können Eltern konkret tun, um ihr Kind zu schützen?
Wichtig ist, dass man offen über Grenzen sprechen kann. Das Kind muss wissen, wo diese Grenzen sind und dass es sich trauen kann, etwas anzusprechen, ohne dass es gleich peinlich oder schlimm ist. Es geht vor allem darum, sein Kind ernst zu nehmen und die Situation nicht zu verniedlichen, indem man sagt: «Der meint das doch gar nicht so!» Ich rate dazu, mit einer Fachperson darüber zu sprechen, bevor man zur Polizei geht. Einen solchen Fall hatten wir kürzlich erst. Da wurde ein Primarschüler in einem Chat von ein paar Oberstufenschülern belästigt, auch mit pornografischen Inhalten. Die Mutter kam zu uns und hat sehr viel Energie aufgewendet, um das Problem anzupacken, was sehr wertvoll war. Ich habe sie dann darauf vorbereitet, was bei der Polizei passieren wird. Denn es war klar, dass sie zur Polizei hat gehen müssen.
Beratung und Hilfe 147
Manchmal fällt es Kindern und Jugendlichen, die im Internet gemobbt werden, einfacher, mit einer neutralen Person darüber zu sprechen. Bei der Beratung + Hilfe 147 erhalten Kinder und Jugendliche rund um die Uhr vertraulich Hilfe. Pro Juventute richtet sich in speziellen Beratungsangeboten aber auch an die Eltern. Erfahre mehr auf ihrer Webseite:
Ist der Weg zur Polizei wirklich unerlässlich?
Wird ein Kind von einer Gruppe bedrängt oder handelt es sich um sexuelle Belästigung, muss man das mit dem Gesetz regeln. In drei von vier Fällen aber kann man die Probleme lösen, indem man sich auf Augenhöhe begegnet. Das ist viel effizienter, als sofort zur Polizei zu rennen und Strafanzeige zu stellen. Da muss vor allem das Umfeld stimmen und mitmachen. Gerade Eltern, Lehrpersonen oder Schulsozialarbeitende spielen da eine grosse Rolle. Wichtig ist hier, dass man nicht direkt von Cybermobbing spricht, sondern den Umgang miteinander thematisiert. Viele gehen sonst in die Defensive. Wer gibt schon gern zu, jemanden zu mobben oder zu stalken? Dafür müsste es sogar ein Schulfach geben. Medienkompetenz kommt viel zu kurz in den Schulen.
Und was mache ich konkret als Mutter oder Vater, wenn mein Kind zum Täter oder zur Täterinwird?
Interessant ist hier die Frage, ab wann ein Kind wirklich Grenzen überschreitet. So einige Ausdrücke, die Jugendliche in der Jugendsprache benutzen, sind eigentlich strafbar. Viele wissen zum Beispiel nicht, dass es sie bis zu 1000 CHF kosten kann, jemanden als «Schlampe» oder «behindert» zu beschimpfen. Aber im Kontext der Jugendsprache macht es wenig Sinn, das direkt anzuzeigen. Wichtig ist, dass diese Kinder merken, dass es in anderen Kontexten nicht geht, diese Ausdrücke zu verwenden. Je älter Kinder werden, desto mehr sind sie natürlich in der Lage, Recht und Unrecht zu unterscheiden. Da ist es immer am besten, sich in einem ersten Schritt zusammenzusetzen und auf Augenhöhe miteinander zu reden. Die Kinder müssen realisieren, was ihr Verhalten auslösen kann.
Lassen Sie uns mit etwas Positivem schliessen: Was hat sich in den letzten Jahren verbessert?
Es wird mehr darüber gesprochen, und im Umgang miteinander wird digitale Gewalt mittlerweile anerkannt. Betroffene fühlen sich weniger allein und müssen sich nicht zurückziehen, weil es viele Hilfsangebote gibt. Trotzdem haben wir von NetzCourage auch heute noch dieselben Forderungen wie am Anfang, nämlich, dass digitale Gewalt im Gesetz verankert wird. Warum macht man nicht einfach ein Gesetzbuch für die digitale Welt?
Studien zeigen, dass junge Frauen sich aufgrund von Hass und Gewalt, die sie im Netz erleben, zunehmend aus dem digitalen Raum zurückziehen. Mehr Infos dazu gibt es beim Kompetenznetzwerk „Hass im Netz“: https://kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de/