Zwei Fragen kommen immer wieder: Sie betreffen die Binarität von Kaleio und die Tatsache, dass Jungs im Titel des Magazins nicht ausdrücklich erwähnt werden. In diesem Beitrag gehen wir auf beide Fragen ein.
Sehr schnell, eigentlich von Anfang an, stand bei dem 2020 gestarteten Projekt Kaleio die Frage nach der Anrede im Raum, angefangen beim Titel der Zeitschrift bis hin zu den Inhalten der Artikel: Wie sollen die Adressierten bezeichnet, welche Pronomen verwendet werden? Wollen wir uns ausschliesslich an einen weiblichen Plural richten? Soll eine inklusive Schreibweise verwendet werden (und wenn ja, inwieweit)? Wen möchten wir wirklich ansprechen, wie und warum?
Nach einigem Herantasten und vielen Diskussionen (die übrigens noch nicht beendet sind!) war eine Entscheidung gefallen: Wir beschlossen, uns vorerst spezifisch auf die Mädchen zu konzentrieren. Es gibt mehr als nur eine Erklärung dafür.
WO SIND DIE JUNGS?
Der Eckpfeiler von Kaleio ist das Empowerment von Mädchen in der Vorpubertät und im jungen Teenageralter. Aber was ist mit den Jungs? Verdienen diese nicht auch Tipps und Ratschläge für mehr Selbstachtung und Selbstvertrauen? Darauf antworten wir mit einem grossen JA: Die Inhalte unseres Magazins vermitteln Werte für alle. Die Besonderheit an Kaleio besteht darin, dass wir aus einer weiblichen Perspektive darüber sprechen: sowohl inhaltlich (indem wir überwiegend Frauen und Mädchen in den Vordergrund rücken) als auch sprachlich (durch die Verwendung von weiblichen Pronomen). Mit anderen Worten: Wir setzen uns über die Normen einer Gesellschaft hinweg, die in der überwältigenden Mehrheit der Fälle männliche Personen zu Wort kommen lässt und das «generische Maskulinum» verwendet, um eine nicht näher definierte Gruppe von Personen zu bezeichnen. Denn auch wenn sich gesellschaftlich so manches bewegt, leben wir immer noch in einer Welt, wo der – meistens weisse – Cis-Mann1 zur dominanten, anerkannten Einheit erhoben wurde, zum «Standardmenschen»2.
Weil also nach wie vor zu wenige Kinofilme und Kinderbücher den Bechdel-Test bestehen, weil Frauen in Schweizer Nachrichtenmedien weiterhin drastisch unterrepräsentiert sind, weil Mädchen sich seltener einen technischen Beruf zutrauen (und aus 1000 weiteren Gründen), haben wir entschieden, mit Kaleio in der weiblichen Form zu sprechen. Einerseits, um uns für eine Anerkennung der Frauen und Mädchen (d. h. ihre Bedeutung und ihre Legitimität) einzusetzen, andererseits, um dieser permanenten, systematischen Diskriminierung und dem damit verbundenen Unsichtbarmachen etwas entgegenzusetzen.
Wer die Welt verändern will, muss irgendwo anfangen und Kindern schon früh Werkzeuge an die Hand geben. Um Geschlechterbinarität und Heteronormativität zu durchbrechen, die Liebe neu zu erfinden, Dominanz und Gewalt zu beseitigen, müssen zuallererst die Kinder (unsere zukünftigen Erwachsenen) ein gesundes Selbstvertrauen entwickeln und einander respektieren. Weil dies bei Personen männlichen Geschlechts eher gefördert und gewürdigt wird und entsprechend häufiger anzutreffen ist und weil Mädchen dazu neigen, im Laufe der Pubertät an Selbstvertrauen zu verlieren, haben wir es uns mit Kaleio zur Aufgabe gemacht, die Mädchen gezielt dahingehend zu stärken.
Nichts hält Jungs davon ab, unsere Zeitschrift zu lesen, im Gegenteil! Wenn Menschen, die nicht als männlich und weiss gelesen wurden, zu allen Zeiten zu Zeitungen gegriffen, Bücher gelesen und Filme angesehen haben, in denen die Hauptfigur sich von ihnen unterschied, und sie dennoch träumen, nachdenken, eine neue Perspektive einnehmen und einen Gewinn daraus ziehen konnten, dann sind wir der ehrlichen Überzeugung, dass ein Junge nicht das geringste Risiko eingeht, wenn er Kaleio in die Hand nimmt und sich darin vertieft. Indem sich Jungs dieser absurden gesellschaftlichen Zweiteilung bewusst werden – «männlicher Inhalt = allgemeingültiger Inhalt» vs. «weiblicher Inhalt = ausschliesslich für Frauen geltender Inhalt» –, können sicher auch sie besser dazu beitragen, diese engen Zuschreibungen, die uns allen aufgezwungen werden, aufzubrechen.
NICHT-BINARITÄT
Wir haben die Nicht-Binarität aus zwei Gründen aussen vor gelassen:
Erstens aus Gründen der Legitimität. Unser Team besteht derzeit aus sechs Cis-Frauen. Es erschiene uns daher ebenso unangebracht wie taktlos, um jeden Preis im Namen von nichtbinären3, Personen sprechen zu wollen, denn deren persönliche Erfahrungen (Besonderheiten der Sozialisation, Diskriminierungen) unterscheiden sich zum allergrössten Teil von denen der Cis-Frauen – auch wenn es natürlich durchaus Überschneidungen gibt. Der Blog La vie en queer betont in einem Artikel zu der Frage, wie nichtbinäre Personen in feministische Diskurse miteinbezogen werden können: «Die Probleme nichtbinärer Personen sind nicht identisch oder deckungsgleich mit den Problemen von Frauen.» Angesichts dessen verwenden wir im Magazin auch nicht die Bezeichnung Mädchen*, denn nichtbinäre Personen sollen nicht permanent auf ein Sternchen reduziert werden, das an ein Wort angehängt wird (zumal dieses Wort ihnen unter Umständen gar nicht entspricht bzw. sie sogar misgendert4). Jede Person hat eine spezifische gesellschaftliche Prägung, d. h., niemand ist in der Lage, die eine allgemeingültige, objektive, unabhängige Wahrheit zu formulieren – und das Kaleio-Team bildet da keine Ausnahme. Dass wir das Wort ergreifen und einen (hier medialen) Raum einnehmen können, um eine Botschaft und Werte zu vermitteln, ist in unseren Augen ebenso sehr ein Privileg und eine Verantwortung wie eine Aufforderung zu Demut und Bescheidenheit.
Zweitens aus praktischen und strategischen Gründen. Wir glauben, dass Kämpfe zwar intersektional sein und sich gegenseitig unterstützen sollten, gleichzeitig aber auch kraft ihrer eigenen Besonderheiten in der Lage sein müssen, für sich zu wirken, zu denken und voranzuschreiten – natürlich ohne dass dies zulasten der anderen Kämpfe geht. Daher haben wir uns angesichts der aktuellen Zusammensetzung unseres Teams und unserer persönlichen Erlebnisse dafür entschieden, Mädchen in den Fokus zu nehmen.
Aber auch wenn Kaleio sich in erster Linie an Mädchen richtet, bedeutet das nicht, das wir Rassismus, die Kämpfe der geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten, die Rechte von Menschen mit Behinderung usw. aus dem Blick verlieren. Mit unserem Magazin versuchen wir – im Rahmen unserer Möglichkeiten –, eine Botschaft des allumfassenden Respekts und der Offenheit zu verbreiten, und zwar durch Zuhören und Verständnis für uns selbst und andere und indem wir veranschaulichen, modellieren und eröffnen, was möglich ist. Dies geschieht beispielsweise durch die Repräsentation unterschiedlicher Körpertypen, durch die Auswahl der interviewten Personen und durch Inhalte, die nicht essentialistisch/biologistisch, nicht genderspezifisch und vor allem nicht diskriminierend sind.
Statt einer Nicht-Binarität haben wir uns daher für die folgende «Lösung» entschieden: Inklusivität verwirklichen und Gestalt geben durch universelle Inhalte, in denen Selbstvertrauen und Respekt vorherrschen, und Unterschiede sichtbar machen, ohne diese zu betonen oder übermässig herauszustellen, wenn es dazu keinen Grund gibt. Mit anderen Worten: die Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit der Menschen präsentieren und Möglichkeiten zeigen, sich selbst treu zu sein und gleichzeitig sich selbst und anderen mit Respekt zu begegnen.
DER REST DER WELT
Deswegen trägt unser Magazin den Untertitel «und für den Rest der Welt». Jede Person – ob sie sich als Mädchen identifiziert, sich für unsere Inhalte interessiert oder einfach aus Neugierde – ist eingeladen, Kaleio in die Hand zu nehmen. Diese Zeitschrift ist unser kleiner Beitrag, um unsere Gesellschaft voranzubringen. Ein leidenschaftlicher Beitrag, in dem wir uns selbst hinterfragen und auch der Spass nicht zu kurz kommt. Denn es gilt vieles zu bedenken mit Blick auf die persönliche Biografie (unsere eigenen Erfahrungen in Kindheit und Jugend vs. die Kinder/Jugendlichen von heute), die soziale Schicht, das Geschlecht, Rassismuserfahrungen, die Kultur (die Schweiz und ihre Multikulturalität), regionale Besonderheiten (Kantone, Sprachen) und in verlegerischer Hinsicht.
Manche werden unsere Entscheidungen vielleicht als falsch oder zu zögerlich empfinden. Und wir können es verstehen, denn keine Entscheidung ist perfekt angesichts der Berge an Dingen, die es noch zu schaffen gilt, um eine Welt zu errichten, in der Selbstachtung, gegenseitiger Respekt und Entfaltungsfreiheit für alle selbstverständlich sind. Das Wichtige ist, dass ein Projekt sich niemals gegen jemanden oder etwas richtet, sondern, ganz im Gegenteil, versucht, einen Teil beizutragen, und dabei weiter «auf Empfang» bleibt und anderen zuhört. Und wir sind ehrlich der Überzeugung, dass Kaleio genau das tut.
1 Cisgender (Abk. cis): eine Person, die sich ausschliesslich mit dem Geschlecht (in den meisten Fällen männlich oder weiblich) identifiziert, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde.
2 Ich verweise hier auf das aufschlussreiche Sachbuch «Unsichtbare Frauen» von Caroline Criado Perez, erschienen 2020 beim btb Verlag.
3 Nichtbinär (nonbinary): Sammelbezeichnung für alle Geschlechtsidentitäten, die sich weder zu 100 % als männlich noch zu 100 % als weiblich identifizieren.
4 Misgendern: Eine Person wird (absichtlich oder unabsichtlich) auf eine Art und Weise angesprochen, die nicht ihrem Geschlecht entspricht, d. h., es werden z. B. die falschen Pronomen oder eine falsche Anrede verwendet.
Traduction: Stefanie Kuballa-Cottone.