Der «Gender Pay Gap», die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern, dürfte allen ein Begriff sein. Der «Gender Data Gap», wörtlich etwa «Geschlechter-Datenlücke», bezeichnet ein nicht minder problematisches Phänomen unter anderem im Bereich der medizinischen Forschung: Wenn es darum geht, wissenschaftliche Daten zu sammeln, werden Frauen häufig vergessen oder übergangen. Sie befinden sich gewissermassen im toten Winkel der Wissenschaft. Die Waadtländer Medizinerin Carole Clair hat den Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Forschung auf den Einfluss des sozialen und biologischen Geschlechts auf die Gesundheit gelegt.
KALEIO: Carole Clair, können die fehlenden medizinischen Daten für Frauen gefährlich sein?
CAROLE CLAIR: Ja! Nehmen wir beispielsweise die Dosierung von Schlafmitteln: Tests haben gezeigt, dass bei einer erheblichen Anzahl von Frauen die Wirkung des Medikaments noch am darauffolgenden Morgen anhielt. Wenn diese Frauen sich dann ans Steuer setzen, haben sie ein erhöhtes Unfallrisiko. Zweites Beispiel: Ein Infarkt kann sich bei Frauen ganz anders äussern als bei Männern. Das nicht zu wissen, kann gefährlich sein, weil das Risiko besteht, dass die Symptome nicht erkannt werden.
Wie erklären Sie sich diesen Mangel an medizinischen Daten im Hinblick auf Frauen?
In Medizin und Wissenschaft haben wir lange Zeit den männlichen Körper als Standard verwendet, um zum Beispiel Körperfunktionen, Krankheiten und die Wirkung von Medikamenten zu studieren. Das, was wir bei den Männern beobachtet haben, haben wir dann auf die Frauen übertragen. So war der Mann stets die bevorzugte Basis. Und das, obwohl die Wissenschaft grundlegende Unterschiede zwischen männlich gelesenen und weiblich gelesenen Körpern festgestellt hat, in jedem Gewebe und Organ, aber auch im Hinblick auf Häufigkeit, Verlauf und Ausprägung der meisten gängigen Erkrankungen des Menschen.
Die Forschung hat erkannt, dass diese Methode problematisch ist, denn es gibt biologische Unterschiede – denken Sie nur an Chromosomen, Hormone oder die Grössen- und Gewichtsunterschiede. Was sich also aus den an männlichen Probanden durchgeführten Studien ablesen lässt, ist nicht unbedingt auf Frauen übertragbar (und übrigens auch nicht auf ältere oder nichtweisse Männer und schon gar nicht auf nonbinäre Personen). In den 1990er Jahren ist uns die Bedeutung dieser Spezifika in der Medizin bewusst geworden. Derzeit fordern die Forschungsinstitute zahlreicher Länder, dass Frauen und (sogenannte) «Minderheiten» in die Studien mit aufgenommen werden. Das ist ein Fortschritt, aber der Rückstand ist dadurch nicht aufgeholt.
Gibt es weitere Gründe für diesen Rückstand?
Das Fehlen geschlechtsspezifischer Daten geht auch auf Medikamentenskandale wie zum Beispiel den Contergan-Skandal Anfang der 1960er Jahre zurück. Damals nahmen Schwangere das besagte Beruhigungs- und Schlafmittel, um damit die morgendliche Übelkeit zu bekämpfen. Der darin enthaltene Wirkstoff Thalidomid verursachte teils schwere Fehlbildungen der Föten. Seitdem ist es Frauen im gebärfähigen Alter in zahlreichen Ländern untersagt, an Arzneimitteltests teilzunehmen. Erst 1993 hat eine US-amerikanische Gesundheitsbehörde, die National Institutes of Health (NIH), festgestellt, dass das Ausschliessen von Frauen zu verzerrten Erkenntnissen führen könne. Sie hat daraufhin ein Gesetz verabschiedet, das vorschreibt, dass Frauen und sogenannte «Minderheiten» in die wissenschaftliche Forschung einbezogen werden, sie aber gleichzeitig im Falle einer Schwangerschaft schützt.
Wie kann dieser Rückstand aufgeholt werden?
Zusammen mit Kolleg:innen haben wir erreicht, dass an der Medizinischen Fakultät in Lausanne der Kurs «Medizin und Geschlecht» in den Lehrplan aufgenommen wird. Das Lehren der Unterschiede zwischen Mann und Frau sowie der herrschenden Stereotype in dieser Hinsicht ist meines Erachtens von grundlegender Bedeutung, um Patient:innen besser behandeln zu können. Nehmen wir zum Beispiel den Schmerz, dessen medizinische Interpretation durch gesellschaftliche Faktoren verzerrt werden kann. Ich denke da in erster Linie an die Nichtberücksichtigung oder Missachtung von Schmerzen bei Frauen: Ihr Schmerz wird nicht beachtet, mit der Scheinbegründung, dieser sei häufig psychischer Natur. Bei den Männern ist es ähnlich: Depressive sind zum Teil unterdiagnostiziert, weil ihre Symptome von denen der Frauen abweichen. Ich glaube, dass die Ausbildung der künftigen Medizinerinnen und Mediziner es ermöglicht, solche geschlechtsspezifische Stereotype abzubauen. Das wird sich beispielsweise auf die Medikation und die Diagnostik positiv auswirken.
Wo steht die Schweiz im Vergleich zur Europäischen Union?
Auf institutioneller Ebene haben wir den Schweizerischen Nationalfonds (SNF), die wichtigste Schweizer Institution zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, kontaktiert und darum gebeten, dass Geschlecht und Gender zwingend in die Forschung mit einbezogen werden. In den Vereinigten Staaten oder in Teilen Europas ist das übrigens bereits der Fall. Wissenschaftliche Untersuchungen schliessen Männer und Frauen ein, um je nach Geschlecht passende und wirksame Behandlungen zu haben. Wir versuchen auch, die Geldgeber:innen davon zu überzeugen, Finanzierungen für diesen Forschungstyp ins Leben zu rufen, damit neue, präzisere Erkenntnisse gewonnen und die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber auch Personen anderer Geschlechtsidentitäten besser verstanden werden können.
In meiner Eigenschaft als Medizinerin und Forscherin ist das meine Mission: Ich möchte jeder Person eine qualitative Betreuung zukommen lassen. Und das Wissen um die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen ist ein entscheidender Faktor.
Carole Clair hat einen Forschungsschwerpunkt zum Einfluss von Geschlecht und Gender auf die Gesundheit aufgebaut. Diese Thematik wird im Zusammenhang mit bestimmten Krankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersucht. Carole Clair interessiert sich auch für Genderstereotype bei der medizinischen Behandlung in verschiedenen Disziplinen (z. B. Psychiatrie, Kardiologie). Ausserdem leitet sie ein Projekt zur Berücksichtigung des Faktors Geschlecht im Medizinstudium (Bachelor und Master).